SL-Ausfahrt 2022

MBVC SL-Ausfahrt auf den Spuren von Johann Wolfgang von Goethe.

Christian Haltner

Samstag, 27. August 2022
Die MBVC SL Ausfahrt startete dieses Jahr am Zürichsee mit 33 SL‘s. Das folgende Programm zeigt die Route über 5 Pässe mitten in der Schweiz auf. Der Wettergott meinte es gut mit uns und das erste Mal hatten wir auf dieser geänderten Tour an beiden Tagen schönes Wetter und wir konnten offen fahren. Mercedes-Benz Schweiz AG begleitete uns am Samstag mit dem neusten SL.
 
Die Route führte uns vom Gemeindehausplatz Stäfa über Rapperswil – Seedamm – Schindellegi – Rothenthurm – Schwyz – nach Ibach. Dort durften wir unseren legendären Boxenstopp bei der Mercedes-Benz Garage Benno Müller AG einlegen, wo wir wieder mit Kaffee und Gipfeli für die Weiterfahrt gestärkt wurden. Weiter ging die Fahrt nach Brunnen – dem Axen entlang nach Flüelen – auf der Autobahn nach Amsteg – durch das Reusstal auf der Kantonsstrasse nach Wassen – auf den Sustenpass nach Innertkirchen – weiter zur Handeck, wo das feine Mittagessen im Restaurant Handeck stattfand. Über den Grimsel nach Gletsch – Ulrichen – Nufenenpass – Airolo- Gotthardpass – Andermatt. Die Übernachtung fand im Hotel Radisson Blu in Andermatt statt.

Sonntag, 28. August 2022
An diesem zweiten Ausfahrtstag ging es auf den Gotthardpass in die Festung Sasso San Gottardo zum Besuch der Goethe und Guisan Ausstellung. Hier wurde am 3. Juli 2022 die erste Dauerausstellung über Goethe in Europa ausserhalb von Deutschland durch den deutschen Botschafter Michael Flügger eingeweiht. Die zweite Gruppe besuchte das neue Andermatt, das nach den Investitionen von Herrn Sawiris kaum wieder zu erkennen ist. Rund CHF 1.4 Mia sind bereits investiert, weitere CHF 600 Mio folgen. Das Dorf Andermatt ist herausgeputzt und new Andermatt fügt sich ausgezeichnet in die Landschaft vom Urserental ein.

Die Fahrt führte wieder durch das Reusstal – entlang der Axenstrasse nach Brunnen – Seewen – Lauerzersee nach Oberarth ins Restaurant Horseshoe von Martin Annen, der als ehemaliger Schwinger und

Bobfahrer am eidgenössischen Schwingfest in Pratteln weilte. Wie in den anderen Restaurants wurden wir auch hier vorzüglich verpflegt.

Hätte Goethe einen anderen Wilhelm Tell geschrieben? Das ist sicher und ohne Goethe gäbe es das Theaterstück von «Wilhelm Tell» nicht und ohne Wilhelm Tell wäre die heutige Schweiz eine andere Schweiz. Der Germanist und ehemalige Chefradaktor von Radio DRS 1, Bernhard Schneider, verfasste den nachfolgenden Artikel, der am 2. Juli 2022 auch in der NZZ publiziert wurde.

Vor 225 Jahren entdeckte Goethe am Zürichsee die «Fabel von Tell». Erst wollte er den Stoff selber literarisch verarbeiten, später trat er ihn Schiller für dessen Epos ab.

Während seines Aufenthalts in Stäfa 1797 geriet der Dichter in Kontakt mit der demokratischen Bewegung und las – mit Folgen – die Legende vom Apfelschuss.

Als sich Johann Wolfgang Goethe im Herbst 1797 in Stäfa aufhielt, befand sich die grösste Gemeinde der Zürcher Herrschaft in Aufruhr. Zwei Jahre zuvor war die dort beheimatete Lesegesellschaft führend bei der Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Landschaft. Sie war 1793 mit dem Ziel gegründet worden, die Landleute zu bilden. Die Zürcher Obrigkeit ging aus zwei Gründen dagegen vor: Erstens lag es in ihrer Kompetenz, welche Glaubenssätze in den Landschulen auswendig zu lernen seien. Das selbstständige Studium von Texten gehörte nicht dazu. Zweitens war es der Landbevölkerung untersagt, Vereinigungen zu gründen, die keine obrigkeitlich erwünschte wirtschaftliche Funktion wahrnahmen.

Als die «Männer democratischer Gesinnung» mit dem «Stäfner Memorial» 1794 die Gleichstellung der Landschaft, Abschaffung der Zehnten sowie Studien-, Berufswahl-, Handels- und Gewerbefreiheit fordern wollten, gelangte dieses bereits als Entwurf zur Obrigkeit. Die Anführer wurden verhaftet und zu langjährigen Gefängnisstrafen, hohen Bussen und teilweise zur Verbannung verurteilt. Da sich Stäfa gegen diese Massnahmen wehrte, unterdrückte Zürich die demokratische Bewegung militärisch. Am 5. Juli 1795 besetzte eine übermächtige Truppe Stäfa und zwang die Gemeinde zur Kapitulation.

Diese als «Stäfner Handel» in die Geschichte eingegangene Auseinandersetzung war ein Höhepunkt der emanzipatorischen Bewegung der Landschaft, die 1830 ihr Ziel erreichte. 1798 hatten die französischen Truppen den Zürcher Rat zur Abdankung gezwungen. Die verbannten Stäfner durften zurückkehren und nahmen erneut eine führende Rolle in der demokratischen Bewegung ein. Auch am Ustertag von 1830, der den liberalen Umschwung auslöste, waren Stäfner führend beteiligt. Ab 1831 gehörten in der Folge nicht weniger als vier Vertreter aus Stäfa der ersten Generation liberaler Zürcher Regierungsräte an.

Goethes dritte Schweizerreise
Goethe reiste am 21. September 1797 nach Stäfa und logierte bis am 21. Oktober in der «Krone», wo sich auch die Bibliothek der Lesegesellschaft befand. Die Zürcher hatten zwar die Auflösung der Gesellschaft verfügt, dennoch blieb die Bibliothek intakt. Obwohl führende Männer der liberalen Bewegung fehlten, waren noch Leute da, die Goethe den Zugang zur Bibliothek verschafften und ihn über die Ereignisse der Vorjahre orientierten, namentlich Musterlandwirt Hans Rudolf Rebmann und Kronenwirt Kaspar Billeter. In dieser Bibliothek studierte Goethe das Chronicon Helveticum von Aegidius Tschudi mit der Tell-Sage.

Unmittelbare Belege für Gespräche Goethes mit Stäfner Revolutionssympathisanten liegen keine vor, doch verzichtete er zweifellos bewusst auf politische Hinweise. Das bekannteste Beispiel der literarischen Verarbeitung politischer Kritik ist seine Auseinandersetzung mit der Hinrichtung von Kindsmörderinnen in Form der Gretchen-Figur in Faust. Daher stellt sich die Frage, wie Goethe die Berichte vom Stäfner Handel literarisch verarbeitete.

Vom 28. September bis 8. Oktober 1797 unterbrach Goethe den Aufenthalt in Stäfa, um in die Innerschweiz zu reisen, wo er Mineralien sammelte, die Örtlichkeiten der Tell-Sage besuchte und zum dritten Mal den Gotthardpass bestieg. Bereits auf seinen beiden ersten Schweizerreisen war er Geschichten zu Tell begegnet. In seinem Brief an Friedrich Schiller vom 14. Oktober 1797 aus Stäfa schrieb Goethe: «Ich bin fest überzeugt, dass die Fabel von Tell sich werde episch behandeln lassen».

Aegidius Tschudi und die Gründungsmythen
Die Gründungssagen der Eidgenossenschaft, mit welchen sich Goethe in Stäfa befasste, gehen auf das 14. und 15. Jahrhundert zurück. Im Morgarten- und Sempacherkrieg eigneten sich Schwyz und Luzern habsburgischen Besitz an. 1415 beteiligten sich auch Zürich und Bern an der Eroberung der habsburgischen Herrschaften Aargau und Thurgau. Nach dem Alten Zürichkrieg (1440-50), während dem Habsburg anfangs mit Schwyz und Glarus koalierte, später die Seite wechselte und zusammen mit Zürich den Eidgenossen unterlag, entstand in der Innerschweiz erst recht das Bedürfnis, sich für die Vertreibung Habsburgs zu rechtfertigen.

Während des Kriegs der Eidgenossen gegen Zürich fand das Konzil von Basel statt. Dort machten dramatische Geschichten die Runde, etwa aus Dänemark, Schweden, Norwegen und Island, wo die jeweiligen Helden je nach Variante eine Schriftplatte, einen Apfel oder gar eine Nuss vom Kopf ihres Sohnes schiessen mussten, was selbstverständlich allen auf Anhieb gelang.

Das Apfelschuss-Motiv gefiel den Innerschweizer Kirchenfürsten am besten. Sie entwickelten daraus eigene Geschichten, die erstmals im Weissen Buch von Sarnen 1472 ihren Niederschlag fanden. Schliesslich fasste Aegidius Tschudi um 1550 die verschiedenen Gründungssagen zu einer kohärenten Geschichte um den Rütlischwur vom 8. November 1307 und den Burgenbruch auf Neujahr 1308 zusammen. Dabei hatte vor ihm der St. Galler Gelehrte Joachim Vadian Tell ins Reich der Fabeln verwiesen und die Herkunft der Geschichte zutreffend ergründet.

Der Katholik Tschudi, der unter seinen protestantischen Gegnern die Stadt Zürich am engagiertesten bekämpfte, bearbeitete das Chronicon Helveticum auf dem Höhepunkt seiner Karriere als eidgenössischer Landvogt in der von Habsburg eroberten Landvogtei Baden 1549-51. Auch er verarbeitete seine politischen Eindrücke und Urteile literarisch. Als Landvogt kannte er das Denken seiner Gesslerfigur, nicht aber dasjenige seines literarischen Helden Tell. Da Zürich bei der Verwaltung des Aargaus zu seinen Auftraggebern als Landvogt zählte, setzte er an dessen Stelle Habsburg als Inkarnation des Bösen ein.

Goethes Wirkung
Goethe, Geheimrat in Weimarer Diensten, konnte wohl aus eigener Erfahrung die politischen Hintergründe von Tschudis Geschichten erahnen. Er war sich bewusst, dass eine Geschichte die Realität des Autors beschreibt, nicht diejenige ihres Gegenstandes. In einem 1827 publizierten Gespräch ist nicht von der revolutionären Bewegung gut 30 Jahre zuvor in Stäfa die Rede, sondern nur vor den Naturerlebnissen: «Ich besuchte … den Vierwaldstätter See, und diese reizende, herrliche und grossartige Natur machte auf mich abermals einen solchen Eindruck, dass es mich anlockte, die Abwechslung und Fülle einer so unvergleichlichen Landschaft in einem Gedicht darzustellen. Um aber in meine Darstellung mehr Reiz, Interesse und Leben zu bringen, hielt ich es für gut, den höchst bedeutenden Grund und Boden mit ebenso bedeutenden menschlichen Figuren zu staffieren, wo denn die Sage vom Tell mir als sehr erwünscht zustattenkam.»

Die Stäfner Revolutionäre hatten Goethe zu Recherchen für ein Tell Epos angeregt, die er dann aber Schiller für dessen Drama abtrat. Es trifft wohl zu, dass Goethe «andere Dinge zu tun hatte und die Ausführung meines Vorsatzes sich immer weiter verschob». Vielleicht wollte er aber auch vermeiden, eine Position zwischen den Stäfner Rebellen und der Zürcher Obrigkeit zu beziehen, denn Goethes Sympathien lagen nur bedingt auf der Seite der Rebellen. Sein Freund Schiller bezog viel unbefangener Stellung für den Freiheitshelden Tell und gegen die despotischen Machthaber, auch wenn er die Stäfner Revolutionäre und die autoritären gnädigen Herren der Stadt Zürich nur indirekt, aus Goethes Schilderung kannte.

Der Historiker und Germanist Bernhard Schneider verfasst ein Buch über deren Geschichte. Darin nehmen der Stäfner Handel und der Goethe-Besuch einen prominenten Stellenwert ein. Die Publikation ist für Sommer 2023 vorgesehen.

 
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