Chassistypen-Ausfahrt 2016 – Berner und Neuenburger Jura – Malbuisson – Lac de Saint-Point

Samstagmorgen. Das erste Wochenende im September. Es ist wieder soweit: Chassistypen-Ausfahrt!

Iris & Benedikt Schmedding

Felder mit hohem Mais, Wiesen und Wälder fliegen vorbei. Die Kühe sind rotbunt, doch die eigentliche Sehenswürdigkeit ist das kalkige Felsgestein im schweizerisch-französischen Grenzgebiet. Ein Dörflein begrüsst uns mit «Willkommen» und im nächsten Weiler lädt ein idyllischer Brunnen an der Strasse zum Verweilen ein.

Die Oldtimer fahren ihrem ersten Etappenziel Tavannes entgegen. Nun heisst es Gas geben, schalten, umsichtig in die Kurven gehen. Denn die Landschaft wird zusehends hügeliger. Die Strasse steigt an und die Chassistypen aus Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit – erfordern von den Fahrern gefühlvolles Schalten und umsichtiges Steuern. Muskelkraft ist gefragt, denn Servo-Lenkung hat keines dieser liebevoll gepflegten, original erhaltenen oder restaurierten Fahrzeuge. Jetzt passieren wir den «Naturpark Thal» mit unseren historischen Automobilen. Schon bald darauf bewegen wir uns in einer anderen Sprachregion: «Bienvenue au Jura». Die schmale, aber gut ausgebaute Route windet sich hinauf nach Moutier, zum «Coeur du Jura». Mit ein wenig Phantasie kann man sich vorstellen, wie Skiläufer und Tagesausflügler die Lifte und Pisten während der schneereichen Wintermonate beleben.

Und dann rangieren 19 Fahrer geschickt auf den Parkplatz der Kirche von Tavannes, lachen und plaudern zwischen den Oldtimern. Alle sind gut angekommen nach diesem anspruchsvollen Auftakt von 55,8 Kilometern am frühen Morgen. András und Trudy besprechen Probleme mit der Dieselzufuhr ihrer 170er Limousine S-D. Sofort sind hilfsbereite Kollegen zur Stelle, die mit ihrer Erfahrung ausloten, was zu tun ist. Während das Service-Team ein spontanes Meeting über offener Motorhaube abhält, probieren die meisten der insgesamt 38 Teilnehmer bereits den Kaffee im gegenüberliegenden «Café des Caveaux».

Bei frisch aufgebrühtem Espresso wird nun nach einer Lagebesprechung beim ersten «Boxen-Stop» der Tour beschlossen, dass András versuchen wird, den Wagen reparieren zu lassen. Wo findet man am Samstag einen lokalen Landmaschinen-Betrieb, der helfen könnte? Niklaus Spielmann, Gast der Ausfahrt und Mitarbeiter der Mercedes-Benz in Schlieren, möchte bei der Suche unterstützen. Trudy, Co-Organisatorin dieser herrlichen Grand-Tour durch Berner und Neuenburger Jura, darf daher in der 170 V Limousine von Hansruedi Koch, der er bereits seit 19 Jahren die Treue hält, Platz nehmen. Nun übernehmen die beiden die Spitze der Wagenkolonne. Also auf zur nächsten Zwischen-Etappe nach Le Locle!
 
Eine Szenerie wie im Märchen fängt uns ein. Tannenwald, so weit das Auge reicht. Dicke Baumstämme liegen entlang der Strecke für den Abtransport bereit. Und immer wieder erhascht man für einen Augenblick einen Hinweis wie «La Chaux-de-Fonds» oder «Mont Soleil». Das Trassee der Eisenbahn läuft im «Pays de Neuchâtel» für eine Weile parallel zur Strasse. Wind kommt auf und treibt die Wolken schnell davon.

In Le Locle erwartet uns echte Gastfreundschaft. Pünktlich führt Trudy unsere Gruppe ins «Chez Sandro». Der Patron begrüsst uns herzlich – und der Seniorchef spaziert die Rue de La Gare vor dem Restaurant auf und ab. Dort sind die wunderbaren Chassistypen zu bestaunen, während uns ein bunter Marktsalat mit knusprigen Croûtons serviert wird. Wir werden verwöhnt mit einer Lasagne und als Dessert geniessen wir ein Tiramisu. Sandro winkt uns nach, als die Wagenkolonne durch die schmalen Altstadt-Gassen ortsauswärts rollt.

Wieder in freier Natur, sehen wir begeistert nach oben. Aus grosser Höhe stürzen sich Wasserfälle aus dem Kalkgestein hinunter in die Schlucht. Das Tal ist umsäumt von Bergen. Der Fluss «Doubs» gibt ihm den Namen: Haut-Doubs. Die Menschen, die hier in früheren Jahrhunderten lebten, mussten stark und autark sein. Im vergessenen Tal, umgeben von Bergen, war Einfallsreichtum gefragt, um zu überleben. Handwerker machten sich die wilde Kraft des Wassers zu Nutze. Sie leiteten die Wasserkraft in geregelte Bahnen und bauten Mühlen, mit denen sie ihre einfachen, aber wirkungsvollen Werkzeuge antrieben.

     

In unterirdischen Höhlen, die durch die natürliche Jura-Faltung in Col-des-Roches entstanden, wurden sogar mehrere Mühlräder unter der Erde angetrieben. Deren Industrie-Geschichte beginnt um 1550. Durch einen Mann, der für seine Zeit als Visionär galt, Unternehmer Jonas Sandoz, wurde 1660 das nötige Geld für ein schwieriges Unterfangen investiert: Hier drehten sich unter Tage fünf grosse Antriebsräder, zersägten Holz, mahlten Getreide, häckselten Pflanzen wie Flachs und Hanf oder pressten Öl aus Nüssen… Das Unternehmen war von Erfolg gekrönt. Doch immer wieder betont unsere sympathische Führerin Isabelle, die uns diese unterirdische Welt auf anschauliche Art erschliesst: «Stellt Euch vor, wie karg dieser Arbeitsplatz war; diese dunkle und feuchte Umgebung, unwegsam und gefährlich auf Schritt und Tritt. Noch heute kann man in eine Tiefe von mehr als 20 Metern absteigen. Licht fiel in dieses Dunkel nur durch eine kleine, natürliche Felsöffnung.»

Zurück am Tageslicht heisst es: Zu den Fahrzeugen! Wie durch ein Bilderbuch fahren wir durch schweizerisch-französische Grenzdörfer und entdecken die mächtige Burg «Château de Joux» auf einem Felsvorsprung. Am späten Nachmittag treffen wir in unserem Quartier, dem Hotel «Le Lac» in Malbuisson am Lac de Saint-Point, ein. Im Empfangssaal offeriert Chefin Corinne Brachet einen Apéro, als die Sonne gerade untergeht. Ein passionnierter Oldtimer-Freund zieht ein Resümée zur heutigen Schluss-Etappe von 53,7 Kilometern: «Geschafft. Das war kräftezehrend.» Jetzt aber dürfen wir den Abend unter Freunden geniessen.
 
Und András und Niklaus? Die beiden Männer konnten während ihrer Recherche sogar mit einem Glas Rotwein anstossen. Eine spontane Reparatur der 170er Limousine von 1949 war jedoch nicht erfolgreich, der Wagen musste abgestellt werden. Aber András‘ Optimismus wirkt ansteckend. Alles wird gut! Der Abend klingt aus. Warm umfängt die Sommernacht alle, die nach dem Dîner mit regionalen Produkten noch zu einem letzten Glas auf der Terrasse zusammenbleiben.


 
 
 
Beim Frühstücks-Buffet am Sonntagmorgen ist es offensichtlich: Wir sind in Frankreich! Croissants verführen in vielen Variationen. Peter Schwizer fährt sein 170er V Cabriolet A zur nächsten Tankstelle, um zur Abfahrt um 8h45 mit vollem Tank bereit zu sein. Im Road-Book steht: «Besichtigung und Apéro in Cortaillod» – Was erwartet uns wohl?

Anderthalb Stunden später parken wir unsere Chassistypen in Cortaillod bei Neuenburg an der Auffahrt zum Park der Stiftung Charles Gaston und Erika Renaud zwischen Herrenhaus und alten Rebstöcken. Das 290er Cabriolet D, Baujahr 1933, von Pesche Badertscher gefahren, ist das älteste Schmuckstück. «Mamma Mia», ruft der 10-jährige Rico fasziniert und voller Bewunderung und steigt vom Velo.

Doch dann sind alle ausnahmslos fasziniert: Die Türen zu einer einmaligen Sammlung Mobilitäts-Geschichte öffnen sich. David Hove bringt es mit einem scherzhaften Ausspruch auf den Punkt: «Ich muss mich in den Arm kneifen: Wache ich oder träume ich?» Diese Überraschung ist gelungen! Die Sammlung Renaud umfasst etwa 120 Fahrzeuge; über 64 Automarken aus 9 Ländern. Die Kollektion präsentiert als ältestes Sammlerstück einen Benz von 1898 und spannt den Bogen bis zum Pagani von 2003. Ungestört dürfen wir durch die Halle zirkulieren, vorbei an Bugatti, Rolls-Royce, Aston Martin, Ferrari, Porsche, Ford, Cadillac. Es sind aussergewöhnliche Automobile. Nochmals fasst ein Kommentar von David alles zusammen: «Eine Augenweide!»

          

Trudys Schwester Béatrice und deren Freundin Fran lenken unsere Aufmerksamkeit mit duftendem Focaccia auf den Apéro-Tisch, den sie im Freien mit lauter kleinen, feinen Köstlichkeiten vorbereitet und originell dekoriert haben. Wir greifen zu und folgen dann gespannt den Ausführungen des Vortrags von Klaus Sigloch, der den Besuch in Cortaillod abrundet. Das Wetter meint es gut mit uns. Geniesserisch fahren wir wieder durch die Landschaft. Wir freuen uns an kurzen Ausblicken auf Rebberge und den Neuenburgersee. Die Route führt durch enge Gassen, die ihren mittelalterlichen Charme bewahrt haben. Fröhlich winken uns Passanten zu, als wir nun Richtung Bern/Fribourg zum gemeinsamen Mittagessen fahren. Obstbäume begleiten uns auf der Strecke, aber auch Kartoffelfelder zeigen, dass dieser Landstrich landwirtschaftlich stark genutzt wird. Dazwischen passieren wir schmucke Häuser mit dem letzten Sommerflor.
 
Als wir die Staumauer des Schiffenensees überqueren, ist vielen von uns nicht klar, dass hier vor mehr als 50 Jahren das rund 13 Kilometer lange Saanetal zwischen Fribourg und Schiffenen geflutet wurde: Der Schiffenensee entstand. Beim Mittagessen im «Landgasthof Garmiswil» haben wir abschliessend Gelegenheit, uns über die vielfältigen Impressionen dieser Ausfahrt auszutauschen.
 
Allen, die zum Gelingen der Chassistypen-Ausfahrt 2016 beigetragen und das OK engagiert unterstützt haben: Herzlichen Dank. Es war einmalig! Besonders danken wir Trudy und András Széplaky für ihren unermüdlichen Einsatz beim Planen und Organisieren im Vorfeld, für zahlreiche Abklärungen zu Restaurant-Besuchen und Aufenthalten, Konzipieren und Redigieren des Road-Books, für das Einbeziehen der Gäste Stephan Müller und Niklaus Spielmann, Schlieren, und ein besonderes Dankeschön an
Béatrice und Freundin Fran.

 

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